Vielfalt, auf engl. Diversity, ist ein Modewort. Könnte man jedenfalls meinen. Überall, in der Wirtschaft, in der Politik wird die Bedeutung der Vielfalt beschworen, werden in Unternehmen Diversity-Abteilungen eingerichtet, werden Netzwerke für und von LSBTIQ*, Menschen mit Behinderung, mit Migrationshintergrund eingerichtet. Frauennetzwerke gibt es unzählige.
Vielfach wird Kritik laut: Brauchen wir das denn wirklich diesen neumodischen Kram? Ich mache es kurz: Ja, brauchen wir. Brauchen wir dringend. Diskriminierung ist eine Tatsache. Sei es strukturelle Diskriminierung, die Karrieren bspw. von Frauen immer noch verhindert (die berühmte Glasdecke), sei es direkte persönliche Diskriminierung in Form von Beleidigungen, Mobbing etc. All das ist leider immer noch Alltag, sowohl in deutschen Unternehmen wie auf deutschen Schulhöfen.
Und neumodisch ist an Vielfalt gar nichts. Vielfalt ist ein uraltes Prinzip, dass die Natur zum Überleben braucht, damit Arten nicht aussterben. Vielfalt durch Einwanderung hat schon in der Historie Staaten wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Preußen oder die Niederlande bspw., um nur zwei zu nennen, in denen u.a. politische und/oder Glaubensflüchtlinge Heimat fanden. Vielfalt brachte schon damals Know-how, Wissenstransfer. Kluge Herrscher oder Staaten erkannten das.
Ich will hier kein idealistisches Plädoyer für Einwanderung halten. Es geht mir vielmehr darum klarzumachen, wie lebensnotwendig ein gewisses Maß an Vielfalt und daraus folgender gegenseitiger Befruchtung (biologisch wie geistig) ist. Ideen entstehen oftmals durch Assoziationen, Anstöße von außen, meist von anderen Menschen. Grundlegende Techniken zur Ideenentwicklung, wie z. B. Brainstorming, funktionieren richtig gut nur in der Gruppe, also in Vielfalt. Unsere europäische Küche wäre eine äußerst langweilige Angelegenheit ohne ihre ganzen Einwanderer, zu denen nicht nur Gewürze wie Pfeffer, Muskat, Safran u.a. gehören, sondern sogar manche, die wir heute zu den Einheimischen zählen, wie die Kartoffel, Grundbestandteil pfadfinderischer Sommerlagerernährung.
Die Antwort ist denkbar einfach: Vielfalt wurde unserer Organisation bereits in die Wiege gelegt, ist quasi Bestandteil unserer DNA.
Baden-Powell (BP) brachte Kinder aller Schichten zusammen aus Working, Middle und Upper class. Er baute damit bewusst auf Vielfalt und holte die Kinder aus der Eindimensionalität der engen britischen Klassenschranken. Für die damalige Zeit war das ein unwahrscheinlich mutiger und großer Schritt und wurde teilweise sicher als unerhört empfunden. Aber vielleicht liegt gerade darin eines der Geheimnisse des Erfolgs der Bewegung. Bis heute.
Pfadfinderverbände entstanden im gesamten britischen Empire und schließlich auch außerhalb desselben. Die Girl Guides kamen hinzu. Irgendwann entstanden koedukative Verbände. Vielfalt wurde immer weiter gefasst. Die Bewegung wurde im wahrsten Sinne des Wortes immer vielfältiger. Das ging nicht völlig schmerzfrei über die Bühne. Es mussten viele Widerstände und Vorbehalte überwunden werden, bis bspw. die DPSG erstmals auch Mädchen aufnehmen konnte. Und auch wir müssen Vielfalt jeden Tag neu lernen und üben, denn keiner von uns ist ohne Vorurteile. Erst waren es Ressentiments gegenüber Mädchen oder vielleicht Kindern mit anderer Hautfarbe oder Religion. Irgendwann trauten sich Schwule, Lesben und andere sexuelle Minderheiten mehr und mehr aus der Deckung und wollten dabei sein. Richtig dabei sein. Nicht nur geduldet werden, sondern willkommen geheißen, geschätzt und respektiert werden.
Damit musste die Bewegung erstmal klarkommen. Wie problematisch das sein kann, sieht man heute noch in den U.S.A. und bei vielen anderen nationalen Verbänden, die Probleme haben, mit Homosexualität gelassen umzugehen. Gelebte Vielfalt – und damit zwingend einhergehend Akzeptanz – mussten und müssen aber auch bei uns jedes Mal aufs Neue erkämpft und erlernt werden. Der Umgang mit dem Wort “schwul” als Synonym für etwas Schlechtes oder der Begriff “schwule Sau” (höre ich beides leider immer noch viel zu oft) sind beste Beispiele dafür.
Das christliche Menschenbild fordert von uns, den Menschen im Blick zu haben, jede/n einzelne/n anzunehmen („akzeptieren“ eben), wie Gott ihn oder sie geschaffen hat. Das können wir uns nicht oft genug vor Augen führen.
Wir haben als christliche Pfadfinder*innen gute Voraussetzungen, diese Herausforderung, vor die uns Vielfalt stellt, immer wieder aufs Neue zu bestehen. Ein Selbstläufer ist es aber nicht. Beim Christopher Street Day in Köln war ich vor Jahren freudig überrascht, einen Wagen der DPSG im Zug zu sehen. Von unserem Wagen der LSU – Lesben und Schwulen in der Union (also in der CDU/CSU) grüßte ich hinüber. Ein Leiter zeigt mir daraufhin seinen Mittelfinger. Dass es Pfadfinder bei der CDU bzw. LSU geben könnte, kam ihm dabei wohl nicht in den Sinn. Vielfalt, in diesem Fall politische, zu akzeptieren, fällt eben auch Pfadfindern offensichtlich nicht immer leicht, selbst wenn man für dieselbe Sache auf die Straße geht.
Damit das Experiment zwischenmenschlicher Vielfalt, egal in welchem gesellschaftlichen Bereich, gelingen kann, muss man nicht nur ständig lernen, offen sein für Neues. Es braucht auch zwingend Regeln, die es in die richtige Bahn lenken. Die Versäumnisse bei der Integration vieler Einwanderergruppen in unserem Land bestätigen das leider eindrucksvoll. Es fehlten vielfach verbindliche Regeln, die Integration förderten und forderten, statt Parallelwelten gedeihen zu lassen, wie es bedauerlicherweise lange Zeit der Fall war und oft noch ist.
BP war sich der Bedeutung von Regeln bewusst, was sicherlich auch auf seinen Erfahrungen beim Militär beruhte. Das Experiment “Vielfalt in Einheit” konnte nur funktionieren, wenn sich alle an feste Regeln hielten. Und es funktionierte tatsächlich. Die Regeln haben sich seitdem verändert, haben sich der Zeit angepasst. Aber es gibt sie noch.
Äußeres Zeichen wurde dann die Kluft, die nicht zur Gleichschaltung, sondern zur Überwindung des Trennenden eingeführt wurde. Für uns Pfadfinder*innen ist die Kluft somit nicht nur ein Zeichen der Zusammengehörigkeit. Sie lenkt den Blick ab von Äußerlichkeiten und hin auf die Menschen, die in ihr stecken, in all ihrer Vielfalt, und somit in all ihrer Individualität. Dass sie später von der Hitlerjugend kopiert und missbraucht wurde, um aus Vielfalt Einfalt und dem Aufbrechen von Klassenschranken Gleichschaltung zu machen, darf uns darüber nicht hinwegtäuschen.
Die Kluft ist somit nur dann gut oder schlecht, wenn wir sie dazu machen. Nicht aus sich selbst heraus. Aus sich selbst heraus ist sie nur ein Hemd. Es liegt also an uns und in welchem Bewusstsein wir sie tragen. Das ist eben die Herausforderung, vor die uns Vielfalt stellt, wenn sie wirklich Früchte tragen soll: sie nicht als gegeben und als per se Gutes hinzunehmen, sondern sie uns tatsächlich bewusst zu machen, aktiv zu gestalten, zu lenken, eben fruchtbar zu machen. Gerade wir Pfadfinder*innen tun dies, in dem sich jede*r nach seinen Fähigkeiten einbringen darf. Niemand wird überfordert. Idealerweise schaffen alle miteinander, lernen voneinander. Und weil das natürlich nur ein schönes Idealbild ist, das wir wohl nie ganz erreichen können, weil wir auch als Pfadfinder*innen engstirnig und diskriminierend sein können, ist es wichtig, wachsam zu bleiben, vor allem sich selbst gegenüber. Auch das ist gemeint, wenn wir sagen: „Be prepared“ – „Allzeit bereit“.